Brave New Universities - in dubio pro silico?

Ein Kommentar von Gert Bachmann

…voir pour prévoir, prévoir pour prévenir!
…sehen um vorherzusehen, vorhersehen um zuvorzukommen!
Auguste Compte, (1789-1857)

Wir schreiben das Jahr 2016, das Jahr der „in silico“ Universitäten. Vierzehn Jahre nach der damals Reform genannten Entsorgung der freien Universitäten weiß eine neomerkantilistische Welt mit dem humboldschen Universitätsgedanken nichts mehr anzufangen. Die ideologische Basisliteratur: Il Principe, das Gutachten von Nasmyth und Schatz. Was in realiter nicht mehr gefielt, wurde in die virtuelle Welt verschoben.

Was bisher geschah:
Alle jene Studien- und Forschungsrichtungen, welche kurzfristig vermarktbare Produkte versprachen, wurden in GesmbH´s beziehungsweise AG´s umgewandelt und alsbald komplett privatisiert, damit beim Marketing niemand niemandem mehr hineinregierte und Resourcenkonflikte klar geregelt währen – durch komplette Abtrennung. Denn fort ist fort, und: was privatisiert wurde, kann nicht mehr kollegial kooptiert werden. Egozentrizität sei eben eine Voraussetzung für Excellenz, so die Rationalisierung dieses Prozesses. Jeder universitäre Nachfolgebetrieb erwarb sich nun seine teure Ausrüstung zur alleinigen Nutzung selbst. In Zukunft nach diesem Weltbild erfolgversprechendes wurde in zahlreichen Eliteinstitutionen angesiedelt und war nur noch äußerst kostenintensiv oder für wenige Quotensozialfälle studierbar. Gute Nacht, Synergismen, gute Nacht, Interdisziplinarität, guten Morgen Elitenredundanz. Wenige Beamte kritisierten dies, die Attribute „Kohlhaas, Don Qichote, Hofnarr“ u. dergl. waren ihnen sicher. Mach lächerlich, wogegen Du keine Argumente hast! Einige wenige „zweckfreie“ Fächer persistierten in drastisch reduzierter Form in immer kleiner werdenden staatlichen Universitäten. Der Volksbildungsgedanke war als unfinanzierbare oder zumindest prioritär niedrigstrangige Sozialromantik empfunden worden. Hier störte nun zwar die Erwartungshaltung der Studiengebühren lestenden SteuerzahlerInnen, auch eine Gegenleistung zu erhalten, doch es wurde eine Lösung erarbeitet.

Die „in silico“ Endlösung
Als Kompromiss bot sich die komplette Umwandlung des universitären Parteienverkehrs in eine reine Elearningplattform an. Damit waren die hohen oder zumindest als untragbar hoch empfundenen Kosten der Präsenzlehre der „Orchideenfächer“ eingedämmt. Das Restpersonal wurde mit Breitbandnetzanschlüssen nach hause geschickt, um dies zu servicieren. Ein bekannt witziger Kolumnist lobte dies als bahnbrechende Universitätsgründung. Ganz allgemein herrschte das Empfinden vor, Grundlagenwissenschaften seien obsolet, man wisse genug, es ginge nur noch darum, das erarbeitete und angewandte gut und über lange Zeiträume geringfügig variiert zu vermarkten. Energieeffiziente oder gar nachhaltige Technologien oder Strategien wurden mit Skepsis betrachtet, da sie langfristig das Konsumwachstum begrenzten und somit die Lebensbeschäftigung der Konsumenten, immer mehr Geld zu verdienen und dieses in immer kurzlebigere, teurere aber prestigeträchtige Konsumgüter zu investieren, in Frage stellte. Dies hätte zu gefährlicher Reflexion und Ausbruch aus der subalternen Geisteshaltung der Konsummierenden, unter Umständen sogar zur Hinterfragung der Wirtschaftsform und der politischen Drektiven des Europaparliaments geführt. Darum musste die klassische Universität wohl verschwinden.

Da den derart flurbereinigten Unis somit sowieso keine Weiterentwicklung mehr zuzuordnen war, war der nächste logische Schritt dann die Virtualisierung der universitären Verwaltung. Expertenprogramme ersetzten Studien- und andere Kommissionen, virtuelle Dekane (Silikane) iterierten die Lösungen für mögliche und finanzierbare Entwicklungs- oder Schrumpfungspläne nach wenigen von Ministerialbeamten vorgegebenen Variablen. Microsoft und SAP fanden sich in einem zukunftsweisenden joint venture, um dies zu realisieren. Wir stehen nun bei in silico university version 0.9 beta. Eine release candidate version ist nicht erforderlich, denn das online debugging wird als letzte Existenzberechtigung staatlich wissenschaftlich Bediensteter empfunden. Zahlreiche real world -open source Versionen in den Ländern der dritten Welt gediehen allerdings prächtig weiter, doch dies führte zu keiner Hinterfragung, des „in silico way“.

Die Reaktion
Wenige reaktionäre Antithesen zu dieser Entwicklung finden sich in zur kompletten Löschung empfohlenen Datenträgern, welche nur aus Mangel an kompatiblen Lesegeräten teilweise überlebten.

  1. Excellenz entstehe aus einem ausreichend großen, frei und ohne Zeitdruck und somit in Eigenmotivation studierenden Pool von StudentInnen. Studienbeschränkungen fördern bloß „anpassungsfähige“ competitive bis soziopathische Menschen und unterdrücken nonkonformistische kreative Forscherinnen. Wer möglichst schnell fertigstudiert, beschränkt seine Sicht und damit seine künftigen Erfolgschancen in einer wechselnden Welt. Auch nicht abgeschossene Studien bilden die Menschen und machen sie zu wertvolleren Gesellschaftsmitgliedern.
  2. Der Grundstein für wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn wird in möglichst breit angelegter Volksbildung gelegt .Eine Weiterentwicklung der Wissensbasis braucht die Akzeptanz weiter Bevölkerungsschichten, denn wie sollte sonst für ein Studium jenseits des Baccalaureates motiviert werden können?
  3. Die Lehre ist der Kern der Universität, und nicht der citation impact des publizierten. Eine Beschränkung der Lehre beschränkt die didaktische und ethische Auseinandersetzung mit dem weiterzugebenden Wissen. Docendo discimus, der Leitsatz der universitären Lehre, gilt heute mehr denn je.
  4. Jedes Fach ist und bleibt a priori existenzberechtigt. Unzufriedenheit mit den letzten InhaberInnen eines Lehrstuhles oder geringe Studierendenzahlen sind keine Berechtigung für eine komplette Liqidierung von oft über Jahrhunderte gewachsenen Fächern. Das Streichen von Fächern ist gleichrangig mit der Legalisierung der Vernichtung von Kulturgut und von da bis zur Bücherverbrennung ist es nicht mehr weit. Wer kann sagen, ob heutekomplett unangewandte und geschmähte Gebiete (siehe das Ende Lavoisiers auf der Guillotine) nicht die „Bringer“ von morgen seien? Auch Inhalte, welche niemals monetäre Früchte trugen, dienen der Weiterentwicklung (Thomas Alva Eddison: „I did not fail, I just found a lot of solutions that did not quite work!“
  5. Die Gängelung der WissenschafterInnen durch die Seilschaften der „impact factor controlling editors“ führt zu einer destruktiven Kanalisierung des kreativen Potentals der ForscherInnen. Anstatt freier kooperativer Forschung und zukunftsweisender fächerübergreifender Werke werden in überadministrierter Manier nur noch „papers produced“, die ForscherInnen werden durch den Mechanismus des „publish or perish“ zu zwangsmigrierenden, entwurzelten, bis ins autistisch soziopathische gehenden subalternen, überkompetitiven Sklaven der controlling boards der internationalen Forschungsfinanzierungsmafia.
  6. Eine betriebliche Organisation ohne Demokratie auf allen Ebenen ist der Tod der Universitäten und gefährdet langfristig auch das demokratische Gefüge Europas. Die Gelehrtenrepublik ist die einzige Garantie für eine holistische, ethische, moralische und wissenschaftlich saubere Entwicklung des tertiären Bildungssektors. Betriebliche Gepflogenheiten wie übertriebene Wertanalysen und Übernahmen aller Art sind kaum mit dem akademischen Eid in Einklang zu bringen.

Finden sie dies zu utopisch oder pessimistisch, sehen sie andere Szenarien? Bitte fassen Sie sich ein Herz und schreiben sie uns!

Im Übrigen bin ich der Meinung, dass die derzeitige unreflektierte Opferung der Universitäten an den Neomerkantilismus Europas (wer sich an diesem Begriff stößt, ziehe seinen Kopf aus dem Sand!) ein schwerer, die kulturelle Vormachtstellung Europas torpedierender Fehler ist. Drittweltstaaten bauen Universitäten auf, wir bauen sie ab. In Europa ist dies schon krass genug. Warum in Österreich die BIP Aufwendung an die Universitäten gar nur halb so groß ist wie im Durchschnitt Europas und warum uns das Schweigen der Rektoren dazu in den Ohren dröhnt, gehörte täglich reflektiert und der Jugend kommuniziert.

Ass. Prof. Dr. Gert Bachmann, im Juli 2006
Betriebsrat des wissenschaftlichen Universitätspersonals (ULV)